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'Narziss und Echo' bei Ovid (Met. III. 339-510)

  1. Allgemeines über die Metamorphose
  2. Inhaltsübersicht
  3. Die 'Antike' Interpretation

Allgemeines über die Metamorphose [top] [nächster Abschnitt]

Als Vorbild für die Erzählung gilt eine der zahlreichen griechischen Sagen. Es existieren viele verschiedene Versionen, doch alle haben feste Bestandteile: die Schönheit und die Jugend des Knaben, die Hybris gegenüber Eros, die Quelle, den Tod durch den Spiegeltrug und die Verwandlung in die Narzisse. Die Verbindung zwischen Narziss und Echo jedoch taucht erstmalig bei Ovid auf. Die Sage findet in Boiotien statt. Ein Zusammenhang zu den vor- und nachgehenden Erzählungen wird durch die Sehergabe des Tiresias und die Einordnung in den Raum Theben und Boiotien hergestellt.

Inhaltsübersicht [top] [vorheriger Abschnitt] [nächster Abschnitt]

Narziss ist ein wunderschöner Knabe. Ihm wurde weisgesagt, dass er ein langes Leben haben werde, wenn er sich nicht selbst erkennt. Alle, Frauen wie Männer, lieben ihn. Doch er verschmäht sie alle. Auch Echo, die ihre eigenständige Stimme verloren hat, verliebt sich in ihn. Nach kurzem Gespräch weist Narziss jedoch auch sie ab. Echo wird von ihrem Liebeskummer aber so sehr gequält, dass sie stirbt. Schließlich fleht einer der Verschmähten Nemesis an, Narziss möge das gleiche erleiden, was er anderen angetan hat, nämlich unerfüllte Liebe.

Dieses Urteil ereilt Narziss, als er an eine Quelle kommt. Er verliebt sich in sein Spie-gelbild, ohne zu wissen, dass es das ist. Als er später erkennt, dass er in sein Spiegelbild verliebt ist, kann er sich von dessen Bann trotzdem nicht befreien. Im Gegenteil, an dem Umstand, dass seine Liebe unerfüllbar ist, geht er zugrunde. Im Hades bewundert er immer noch sein Bild im Styx. In der Oberwelt wächst an der Stelle seines Körpers eine Narzisse.

Die 'Antike' Interpretation [top] [vorheriger Abschnitt]

Im folgenden werde ich anhand von einigen Kernstellen eine klassische Interpretation der Metamorphose anfertigen. Das bedeutet, dass Narziss` Wesen egozentrisch, selbst-verliebt und überheblich ist.

Zunächst läßt sich die Metamorphose in zwei große Hauptteile gliedern: 1. das Leben von Narziss, bis der Götterfluch über ihn verhängt wird, und 2. die Begegnung mit seinem Spiegelbild bis zu seinem Tod.

Gleich am Anfang des ersten Teils steht die Warnung von Tiresias. Auf die Frage, ob Narziss ein langes Leben beschieden sei, antwortet er: "si se non noverit" (348). Nach Meinung von Hubert Cancik wird "jede Interpretation der ovidischen Narzißerzählung [...] von der Deutung dieser Prophezeiung auszugehen haben." Michael von Albrecht will diesen Spruch nur auf das Sich-Selbst-Wahrnehmen bzw. -Sehen beschränken. Darüber hinaus muss dieser Spruch aber als Gegensatz zu dem allgemein bekannten delphischen 'Erkenne Dich selbst!' angesehen werden. Der Ausspruch von Tiresias stellt also die komplette Umkehrung dar: Erkenne Dich selbst nicht, damit du lebst! Folglich muss man noverit auf zwei Sinnebenen erfassen: 1. das sinnliche Wahr-nehmen: das Sehen und 2. die gedankliche Verarbeitung dieses Sinneseindrucks: das Erkennen. Entsprechendes muss man auch auf das Spiegelbild übertragen. Die erste Ebene ist das bloße Sehen des Spiegelbilds , ohne zu erkennen, dass man es selbst ist. Die zweite Ebene ist genau dieses Erkennen, dass das, was man sieht, sein Spiegelbild ist.

Narziss wird schon bei seiner Geburt von allen geliebt (345). Michael von Albrecht deutet das "Passiv (amari) [...] [als] eine Weichenstellung: Die Gabe andere zu lieben hat Narcissus nicht, und das wird bestimmend für sein Schicksal." Auch später wird der schöne Narziss von vielen Frauen und Männern begehrt, er ist aber eitel und zur Liebe unfähig. Dies setzt Ovid schön an den Versen 353-355 in Szene. Er verdeutlicht den Kontrast zwischen seinem schönen Äußeren und seinem kalten Inneren, zwischen Anziehungskraft und Sprödigkeit anhand eines variierten Catullzitats. Bei Catull heißt es im Hochzeitslied 62,42:

multi illum pueri, multae optavere puellae.
idem cum tenui carptus defloruit ungui
nulli illum pueri, nullae optavere puellae.
[
Übersetzung]

Es wird eine Blume - flos - besungen, die alle pflücken und besitzen möchten. Sobald sie aber gepflückt ist, will niemand mehr etwas von ihr wissen. Anschließend löst Catull sein Rätsel auf und sagt, dass dies alles auch auf das junge Mädchen zutreffe.
Bei Ovid sieht das abgewandelte Zitat so aus:

multi illum iuvenes, multae cupiere puellae. 353
sed fuit in tenera tam dura superbia forma: 354
nulli illum iuvenes, nullae tetigere pueallae. 355
[
Übersetzung]

Der erste Vers ist fast identisch zu dem Catulls, nur optavere ist durch das bedeutungs-stärkere cupiere ersetzt. "Der schöne Narziß erregte die cupido aller, die ihn sahen." Dann aber führt Ovid die Verse antithetisch zu Catull fort. Durch das Hyperbaton (354) wird abgebildet, wie sich der harte Hochmut hinter dem schönen Antlitz verbirgt, und superbia bekommt dadurch besonderes Gewicht. Wegen seines Hochmuts gehen die Verse über Narziss anders weiter: alle, die Narziss begehren, können ihn nicht für sich gewinnen. Ovid stellt an dieser Stelle "die völlige Vergeblichkeit aller Liebesmüh um Narziß" heraus.

Damit ist die Figur Narziss eingeführt und ihre wichtigsten Eigenschaften sind be-schrieben: er ist so schön, dass er von vielen Menschen begehrt wird, er selbst aber ist unfähig zu lieben. Diese Merkmale prägen und gehören zu seinem wahren Selbst. Er ist so von Geburt an. Auch die Vorbereitung für die Echo-Geschichte ist getroffen. An ihr wird ein Beispiel für Narziss` Beziehungsunfähigkeit demonstriert.

Echo wurde von Juno der eigenständigen Stimme beraubt als Strafe dafür, dass Echo sie durch ihre Geschwätzigkeit daran gehindert hat, Zeus dabei zu erwischen, wie er sich gerade mit Nymphen vergnügt. Sie kann nur noch die Laute am Ende einer gehörten Rede wiedergeben. Echo ist also dazu verdammt, nur reagieren zu können. Im Gegen-satz dazu kann Narziss nicht reagieren.

Unter diesen Bedingungen hat Ovid ein sprachlich virtuoses Spiel geschaffen.
Echo hat sich in Narziss verliebt, als sie ihn bei der Jagd im Wald gesehen hat, sie kann ihn aber aufgrund ihres Wesens nicht ansprechen. Doch sie hat das Glück, dass Narziss seine Kameraden verloren hat und diese deshalb ruft. So kann Echo antworten und es entwickelt sich ein Gespräch zwischen den beiden. In welchem Narziss sie schließlich auffordert, zu ihm zu kommen. Als sie aus dem Wald tritt, um ihn zu umarmen, findet das Gespräch seinen Höhepunkt wie auch sein Ende:

ille fugit fuginsque 'manus complexibus aufer! 390
ante' ait 'emoriar, quam sit tibi copia nostri.' 391
rettulit illa nihil nisi 'sit tibi nostri.' 392
[
Übersetzung]

An diesen Versen werden die Wesensmerkmale der beiden ganz deutlich. Narziss, auf den Echo mit ausgestreckten Armen zuläuft, ist unfähig zu einer Beziehung mit ihr, da er in Bezug auf die Liebe in Machtkategorien (copia) denkt und so Angst hat, den Be-zug auf sich selbst zu verlieren. "Und natürlich kommt es so, daß er gerade daran ge-straft wird."

Diese Flucht vor Beziehungen macht Ovid hier ganz deutlich. Denn indem er zwei Formen von fugere (fugit fugiensque) direkt hintereinander wiederholt, wird die Flucht besonders betont. Auch die überaus harte Abfuhr, die er Echo erteilt, macht deutlich, dass er nicht bereit ist, eine hingebungsvolle Beziehung zu führen. Und gerade diese Aussage wirkt wie eine Selbstverfluchung, weil Echo und Spiegelbild durchaus gleiche Elemente sind, die nur auf unterschiedliche Sinne beschränkt sind. Dieser Fluchtein-druck wird noch unterstützt durch die übermäßig vielen i-Laute in diesen drei Versen, wodurch eine entsetzte, erschrockene Stimmung erzeugt wird, in der sich Narziss wohl befindet, als Echo auf ihn zuläuft.

Echo aber kehrt durch ihre Sprechbehinderung die harte Abfuhr von Narziss genau ins Gegenteil um. Sie ist für die Liebe sogar bereit, sich selbst aufzugeben (392). Dies ist ein gutes Beispiel dafür, wie genial Ovid dieses Gespräch in Szene setzt.
Echo zieht sich, beschämt über die Zurückweisung, in den Wald zurück und wird dort von ihrem Liebeskummer verzehrt, bis sie nur noch Stimme ohne Körper ist (398f).

Damit ist die Funktion dieser Geschichte erfüllt: Es wurde ein Beispiel für die Bezie-hungsunfähigkeit von Narziss gegeben. Weiterhin kann man die Szene mit Echo als Vorstufe zu der Szene an der Quelle betrachten , was die Selbstverfluchung von Narziss beweist. Dafür spricht auch der Gebrauch ähnlicher Wörter und Phrasen in beiden Teilen (z.B. copia, 391/466; quid me fugis?, 383f zu quo refugis?, 477).

Doch Echo ist nicht die einzige, die Narziss verschmäht hat. Er hat auch viele andere abgewiesen und so deren Zorn und Verachtung auf sich gezogen. "Wie sich Narziss verhielt, das konnte nur als [...] Hochmut, Selbstgefälligkeit und Arroganz angesehen werden." Deshalb fleht einer der Verschmähten Nemesis an, dass Narziss durch dasselbe bestraft wird, was er anderen angetan hat: unerwiderte Liebe.

Somit ist der erste Hauptteil abgeschlossen. Nach dem Urteil fällt nicht ein Wort des Mitleids mit Narziss. Folglich regen sich auch beim Leser Zorn und Verachtung gegen-über Narziss, weil er ein sehr negatives Bild von Narziss bekommt.

Im zweiten Hauptteil nun schildert Ovid, wie Narziss selbst an unerfüllter Liebe zu-grunde geht. Dieser Vorgang läßt sich wiederum in drei Phasen unterteilen, die den ein-zelnen Elementen der umgekehrten Warnung von Tiresias entsprechen: Wenn Du Dich siehst (1.Phase) /erkennst (2.Phase), dann stirbst Du (3.Phase).
Narziss kommt also erhitzt und erschöpft an die kühle Quelle (413f):

dumque sitim sedare cupit, sitis altera crevit, 415
dumque bibit, visae conreptus imagine formae 416
spem sine corpore amat, corpus putat esse, quod unda est. 417
[
Übersetzung]

Narziss stellt beim Erblicken seines Spiegelbildes keinen Bezug zu sich selbst her. Er macht also den Denkfehler, dass er nicht erkennt, dass er das Spiegelbild selbst verur-sacht. Deshalb verliebt er sich in sich selbst. Auffallend ist dabei die Parallelisierung von Durst und Begierde , die durch die Verwendung desselben Wortes (sitis, 415) zu-stande kommt und die durch die Hephthemimeres in Vers 415 und die Trithemimeres in Vers 416 noch verstärkt wird, indem die entgegengesetzten Bedeutungen auch durch die Zäsuren gegeneinander gestellt werden. Außerdem wird die wachsende Begierde da-durch verdeutlicht, dass die Anteile an den Versen, in denen diese Begierde beschrieben wird, von Vers 415 zu 416 auch ansteigen. In Vers 417 wird sein Denkfehler, die Irrealität des Objekts seiner Liebe bestätigt.

Er verstößt also gegen die erste Sinnebene des Seherspruches. Deshalb kommt es zu der verhängnisvollen Selbstliebe, die von Ovid durch das Spiel von Aktiv und Passiv darge-stellt wird:

cunctaque miratur, quibus est mirabilis ipse. 424
secupit inprudens et, qui probat, ipse probatur, 425
dumque petit, petitur pariterque accendit et ardet. 426
[
Übersetzung]

Vorbereitet wird dieses Spiel durch das Verhältnis von miratur - mirabilis, das auch schon Aktiv-Passiv Charakter hat. Es findet seinen Höhepunkt in den Antithesen probat - probatur und petit - petitur. Ein drittes Mal und damit übertrieben und klapprig bringt Ovid diesen Gegensatz nicht, aber auch bei accendit - ardet läßt sich das Verhältnis Aktiv - Passiv erkennen.

Unterstützt werden diese Antithesen durch die rhythmische Gestaltung der drei Verse. So werden in Vers 424 durch die Penthemimeres die beiden Gegensätze getrennt und gegeneinander gestellt. Das gleiche bewirkt die Trithemimeres in Vers 426. Aber auch durch die Akzentuierung werden die Gegensätze herausgearbeitet: miratur hat zwei Akzente, während mirabilis nur einen hat, und im Gegensatz zu probatur, das einen Akzent hat, ist probat gar nicht akzentuiert. Diese Gegensätze machen deutlich, dass "Narziss sich seiner selbst als eines aktiven Wesens gar nicht mehr bewußt ist, sondern der Suggestion des nur scheinbar aktiven Spiegelbilds unterliegt." Er wird von seinem Spiegelbild so in den Bann gezogen, dass er nicht mehr in der Lage ist, Kritik an dieser Erscheinung zu üben.

Ovid wählt nun, um den furor, die Verwirrung des Narziss dem Leser wirkungsvoll darzustellen, die direkte Rede des ‚Helden'. Doch die Rede dient nicht nur, um die innere Situation von Narziss zu verdeutlichen, sondern sie treibt die Handlung auch entscheidend voran. Denn indem Narziss sein Gegenüber genau beschreibt (460ff), kommt er zu der plötzlichen Erkenntnis, dass es sich dabei um sein Spiegelbild handelt, und es folgt die 2. Phase:

iste ego sum! sensi; nec me mea fallit imago: 463
uror amore mei, flammas moveoque feroque. 464
quid faciam? roger, anne rogem? quid deinde rogabo? 465
quod cupio mecum est: inopem me copia fecit. 466
o utinam a nostro secedere corpore possem! 467
votum in amante novum: vellem, quod, amamus, abesset! - 468
[
Übersetzung]

Dieser Teil stellt eine Steigerung zu dem Bisherigen dar und es kommt zum Höhepunkt der Metamorphose. Denn trotz der Erkenntnis, dass es sein Spiegelbild ist, kann sich Narziss nicht von dem Bann befreien. Im Gegenteil, dadurch, dass er jetzt auch gegen die zweite Sinnebene des Seherspruches verstoßen hat, verliert er die lebenserhaltende Hoffnung, dass sein Gegenüber vielleicht doch noch aus dem Wasser steigt.

Um den Fortschritt der Erkenntnis deutlich zu machen , spielt Ovid das Verhältnis von Aktiv - Passiv neu durch, diesmal aber in der 1. Person (flammas moveoque feroque, 464; roger - rogem, 465).
An den paradoxen Wünschen und Aussagen (466-468) wird Narziss Verzweiflung deutlich. Er ist sich dessen aber bewußt (votum in amante novum, 468). Und so kündigt sich die 3. Phase an:

Narziss meint, dass nur der Tod ihn von der qualvollen Liebe befreien kann (471). Und so spricht er seinen letzten Willen aus. Doch der konventionelle Wunsch, dass die/der Geliebte ein längeres Leben haben möge wird bei Narziss zum Paradoxon (472). Er fängt an zu weinen und die Tränen trüben das Wasser: das Spiegelbild verschwindet. Daraufhin schlägt er sich auf die Brust, so dass diese ganz rot wird. Als das Wasser aber wieder klar wird, bricht Narziss über dem erotischen Eindruck seines Spiegelbildes zusammen und stirbt.

Doch dieser Tod ist nicht die erwartete Erlösung für Narziss: Selbst im Wasser des Styx betrachtet er im Hades noch sein Bild. An die Stelle seines Körpers ist eine Narzisse, die Blume der Unterwelt, getreten. "Narcissus stirbt wie Echo an unerfüllter Liebe. Die leidenschaftliche Selbstliebe des Narcissus ist die Strafe für seinen Hochmut, mit dem er die Liebe anderer Menschen zurückweist. Insofern sind die beiden Hauptteile (349-406 und 407-510) symmetrisch aufeinander bezogen."

Abschließend bleibt festzuhalten, dass "Narcissus` Veranlagung weitgehend schon fest-gelegt [ist], bevor er sich frei entscheiden kann; so liegt auch hier keine Charakterent-wicklung vor; es wird Konstantes enthüllt." Seine Selbstliebe und die Unmöglichkeit, andere Objekte zu lieben, ist also sein Wesen, sozusagen sein wahres Selbst.

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